In diesem historischen Jahr 2020, in dem das Corona-Virus alle Lebensbereiche überschattete, wurden den Ergebnissen der französischen Kommunalwahlen im Frühjahr weit weniger Beachtung geschenkt als gewöhnlich.
Der besondere Kontext schlug sich allen voran auf die dramatisch niedrige Wahlbeteiligung nieder. Fast sechzig Prozent der Franzosen gingen gar nicht erst an die Urnen. Zwar appellierte die Politik an die Bürgerinnen und Bürger, ihren demokratischen Willen zum Ausdruck zu bringen und versicherte, für den ersten Wahlgang am 15. März sei alles für die Umsetzung der Hygienevorschriften in den Wahllokalen getan worden. Dennoch passte diese Bitte kaum zur dringlichen Mahnung, möglichst zu Hause zu bleiben. Zwei Tage später, als die landesweite Ausgangssperre in Kraft trat, wurde die zweite Wahlrunde auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben, die schließlich erst am 28. Juni stattfand.
Welche Tendenzen aber lassen sich trotz der besonderen Umstände an den Ergebnissen ablesen?
Die Regierungspartei La République en Marche (LaReM) hat ihr Ziel verfehlt, sich auf lokaler Ebene zu implantieren und eine Wählerbasis aufzubauen. Von 500.000 Stadt- und Gemeinderäten im ganzen Land gehören nur 10.000 der Macron-Partei an. Stattdessen hat die konservativen Rechte, Les Républicains, ihre Wahlbezirke überwiegend verteidigt, also über die Hälfte aller Gemeinden. Die rechtsextreme Bewegung um Marine Le Pens Rassemblement National hat gegenüber den letzten Wahlen 2014 zwei der zehn von ihr verwalteten Städte verloren.
Die große Überraschung innerhalb der politischen Landschaft Frankreichs ist jedoch, dass in vielen großen Städten, wie Marseille, Straßburg, Bordeaux oder Lyon grüne Politikerinnen und Politiker in die Rathäuser einziehen. Vertreter von Europe Écologie – Les Verts (EELV) wie der Europaabgeordnete Yannick Jadot sprechen von einem „Riesenschritt, einer historischen Zeitenwende“. Die Wahlsiege der Grünen gehen in vielen Fällen auf das Konto von Frauen, ob Jeanne Barseghian in Straßburg, Anne Vignot in Besançon oder Michèle Rubirola in Marseille (die allerdings am Jahresende ihren Rücktritt verkünden wird). Die französischen Großstädte werden nicht nur grüner, sondern auch weiblicher und jünger.
Insbesondere in den Städten ist offenbar ein neues ökologisches Bewusstsein eingezogen, was im Kontext der weltweiten Klimabewegung nicht überraschen dürfte. Lange hing den Franzosen der Ruf nach, sie hätten eher geringes Interesse an Umweltschutz und seien zudem unkritisch gegenüber ihrer großen Abhängigkeit vom Atomstrom. Doch mittlerweile hat auch in Frankreich ein Umdenken eingesetzt, das zeigen auch die Ergebnisse der Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes „Kantar“ im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung Frankreich, laut derer sich 68% der Befragten verbindliche Vorschriften zum Erreichen der Klimaziele wünschen und 75% überzeugt sind, die öffentliche Hand müsse mehr für die Energiewende tun.
Die Lücke mittelinks schließen
Doch allein an der Arbeit der Partei EELV können die Wahlerfolge nicht gelegen haben, denn die französischen Grünen hatte in der Vergangenheit mit häufig wechselnden Personal zu kämpfen und war auch bei Beteiligungen an der Regierung wenig erfolgreich. Nun aber setzen die Grünen statt auf ein einsames Außenseiterdasein mehr und mehr auf unterschiedlichste, breite Allianzen: mal mit der Linksaußen-Bewegung La France Insoumise (LFI) mal mit den schon tot geglaubten Sozialisten (Parti socialiste), mal mit beiden. Et voilà, plötzlich ist er wieder da, der Geist einer großen linken Bewegung, die ihre Grabenkämpfe überwindet und sich zusammenschließt. Neu allerdings ist, dass der gemeinsame Nenner Umwelt- und Klimaschutz heißt.
Können also die Grünen die große Lücke auf der linken Seite besetzen, die die sterbenden Sozialisten hinterließen und die zeitweise von Jean-Luc Mélenchon (LFI) ausgefüllt wurde? Dafür jedoch braucht es mehr als Konzepte zum Klimaschutz, denn dieses Thema ist derzeit so erwünscht und konsensfähig, dass es auch von allen anderen Parteien auf die Fahnen geschrieben wird. Den Grünen könnte also schnell die Luft ausgehen, wenn sie nicht mit Verve die Führungsrolle in einem neuen moderat-linken Bündnis besetzen, das neben überzeugten Grünen, Wählerinnen und Wählern der Sozialisten, Mélenchon-Anhängerinnen und -anhänger sowie enttäuschte Macron-Wählerschichten an sich bindet und wenn es ihnen gelingt, auch wirtschafts- und sozialpolitische Akzente zu setzten. Entscheidend wird dabei auch sein, wie ihnen die Umsetzung nachhaltiger Stadtpolitik gelingt. Der Moment dafür war nie günstiger als jetzt. Bis 2022 kann in der politischen Zeitrechnung noch viel passieren. Zugunsten oder Ungunsten der grünen Welle.